Freitag, 30. November 2012

Nachholende Antikritik

Vor fast vier Jahren hatte ich hier mit einer Kritik an der "Kritik an Cornelius Castoriadis" - so der Untertitel ihres Buches - von Michael Sommer und Dieter Wolf begonnen und eine Fortsetzung angekündigt (Blog vom 15. Dezember 2008). Die Fortsetzung blieb aus. Dafür bitte ich vor allem die um Entschuldigung, die hier immer wieder einmal deswegen nachgeschaut haben (siehe die Kommentare zu dem Blog) - und auch die Autoren, die eine kritische Würdigung erwarten durften.  Sie kann jetzt, verspätet, nachgeholt werden.

Durch Zufall habe ich erfahren, dass Karl Reitter, Redakteur der Wiener grundrisse (zeitschrift für linke theorie & debatte), seinerzeit eine Rezension des Buches verfasst hatte, die aber bislang unveröffentlicht  geblieben ist. Karl Reitter beschäftigt sich schon lange mit Castoriadis und hat vor über zwanzig Jahren zusammen mit Alice Pechriggl den Sammelband Die Institution des Imaginären. Zur Philosophie von Cornelius Castoriadis herausgegeben (Wien: Turia & Kant 1991). Im letzten Jahr erschien seine umfangreiche Studie Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen eines freien Gemeinwesens im Verlag Westfälisches Dampfboot. Wer seine Rezension liest und sie mit meinem damaligen Blog vergleicht, wird sehen, dass wir uns bei der Lektüre ähnliche Fragen stellten und zu ähnlichen Antworten auf den Text tendieren - die aber von Karl ausführlich und klar formuliert und begründet werden. Es freute mich daher sehr, als er einer Publikation auf der agora zustimmte. So kommt es hier nun doch noch zu einer ausführlichen Antikritik an Sommers und Wolfs Kritik.    

Karl Reitter: Besprechung von Michael Sommer/Dieter Wolf, "Imaginäre Bedeutungen und historische Schranken der Erkenntnis"


Michael Sommer und Dieter Wolf versuchen in ihrem Buch, die Kritik von Cornelius Castoriadis an Marx ihrerseits einer Kritik zu unterziehen. Ein solches Unterfangen ist prinzipiell zu begrüßen. Castoriadis zählte zu den wirklich eigenständigen Denkern, der unbeeindruckt vom hegemonialen (post)strukturalistischen Diskurs in Frankreich seine Philosophie des Imaginären entwickelte. Dabei setzte er sich bewusst zwischen alle Stühle; er kritisierte Strukturalismus wie Poststrukturalismus, Marx sowieso; seine Bezüge zur Psychoanalyse fungierten nur als ein Moment seiner Philosophie, zu wenig, um bloß als Philosoph der Freudschen Lehre akademisch rezipiert zu werden. Der Habermas-Strömung wiederum war sein Ansatz schon deswegen verdächtig, da er sich als Ontologie versteht – kurzum: wir haben es bei Castoriadis mit einem wirklich kreativen und eigenständigen Denker zu tun, der zum Glück niemals als Modephilosoph gehandelt wurde.

Castoriadis war Jahrzehnte mit dem Werk von Marx verbunden, zuerst als Trotzkist und später als Mitherausgeber von Socialisme ou Barbarie, einem Organ, das die Ideen vorformulierte, die später im Mai 68 aufgegriffen und weiter transformiert werden sollten. Von Marx, ebenso wie von Lacan, in dessen Umkreis er sich auch eine Zeit bewegte,  musste er sich offenbar etwas gewaltsam losreißen; dies war offenbar der einzige Weg, seine eigenen Gedanken zu entwickeln. Seine Kritik an Marx war auch recht harsch und umfassend, aber der Ton täuscht. Castoriadis ist viel marxistischer geblieben, als es den Anschein hat. Eine Kritik an der Marxrezeption von Castoriadis hätte also die Chance geboten, die Einseitigkeiten dieser Kritik aufzuzeigen, zugleich aber die tatsächlichen Probleme bei Marx, die Castoriadis scharfsinnig herausarbeitet, zu diskutieren. Im letzten Satz klingt bereits an, dass diese Buchbesprechung nicht so ganz positiv ausfallen kann. So ist es leider auch. Die beiden Autoren erweisen mir zwar die Ehre, meinen alten Artikel zur abstrakten Arbeit, erschienen in den grundrissen, Nr. 1, ausführlich zu kritisieren. Auch wenn es für mich Schelte nur so hagelt, so stimmt das Interesse doch milde und freundlich. Trotzdem – es tut mir leid das sagen zu müssen: das Buch ist misslungen.

Warum? Ich bezweifle, ob jene Leserinnen und Leser, die Castoriadis nicht kennen, sich während dieser Lektüre nur im entferntesten ein Bild machen können, worum es Castoriadis eigentlich ging. Ich wäre fast versucht, eine Blitzeinführung in das Denken von Castoriadis einzuschieben, ein Unterfangen, das nicht in eine Buchbesprechung gezwängt werden kann. Daher nur ein paar Bemerkungen: Der zentrale Begriff des Imaginären hat mit einem Lacanschen Ab- oder Zerrbild nicht zu tun. Das Imaginäre bei Castoriadis kittet keinen Bruch oder konstituiert eine Spaltung des Subjekts, sondern meint das schöpferische (Ein)Bildungsvermögen der Menschen. Obwohl negative Definitionen immer problematisch sind, möchte ich sie nun doch verwenden: Wir können uns dem Begriff von Seiten der radikalen Kritik am Funktionalismus nähern: Gesellschaft kann nicht so gedacht werden, dass sie ein fest stehendes Set von Bedürfnissen befriedigt und von Problemen löst. Probleme und Bedürfnisse haben zwar immer eine objektive Seite (in jeder nur denkbaren Gesellschaft müssen die Menschen z.B. essen), aber die gesellschaftlichen Institutionen (Institutionen im weitesten Sinne gedacht, so ist z.B. die Kunst oder die Wissenschaft ebenfalls eine Institution) gehen niemals in funktionalen Bezügen auf. Wenn etwa Popper behauptet: „Alles Leben ist Problemlösen“ sind für Castoriadis diese „Probleme“ (auch) Produkt des Imaginären, sie sind also selbst geschichtlich und wandelbar und keineswegs objektiv in einem umfassenden und strikten Sinne. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist also letztlich durch keinerlei natürliche, objektive Bedingungen festgelegt oder determiniert, obwohl sie sich an die Natur „anlehnen“ muss. (Ein Gedanke, den Marx mit der Allseitigkeit des Menschen in den „Pariser Manuskripten“ ebenso  ausspricht.) Den Terminus „Anlehnung“ entnimmt Castoriadis von Freud. An diesem Punkt setzt nun Castoriadis wichtige Unterscheidung zwischen Autonomie und Heteronomie ein. Das Imaginäre ist an sich weder gut noch schlecht. Autonomie beruht nun auf der Erkenntnis, dass unsere gesellschaftlichen Institutionen künstlich, geschaffen oder geschöpft, und daher veränderbar sind. Autonomie ist die Form der Reflexion, das Nachdenken und Nachsinnen über die gesellschaftlichen Formen. Diese Form der Reflexion muss aber konkret in gesellschaftlichen Einrichtungen realisiert werden: das nennt Castoriadis dann Demokratie. Eine heteronome Gesellschaft hingegen hält ihre Einrichtungen für gottgewollt, oder, auf moderne Verhältnisse bezogen, der Vernunft entsprechend. Eine heteronome Gesellschaft kann durchaus Parlamente, Wahlen und Abstimmungen kennen, solange die Geschaffenheit, die Künstlichkeit der Institutionen und Formen, z.B. der Lohnarbeit, nicht erkannt und damit als veränderbar angesehen wird, solange herrscht Heteronomie. Der Gegensatz von Autonomie und Heteronomie wirkt aber auch innerhalb der jeweiligen Institutionen, auch im Individuum selbst – das ist Castoriadis’ Bezug zur Psychoanalyse. Es ist letztlich eine sehr umfassend ausgearbeitete Entfremdungsfigur, die seinem Denken zugrunde liegt.

Eine Skizze der Philosophie von Castoriadis, selbst eine nur sehr allgemeine, legen die Autoren leider nicht vor. Sie setzen sofort mit ihrer Kritik an Castoriadis ein, ohne seine Denkmittel darzustellen und zu erläutern. Castoriadis interpretiert Marx in seinem Hauptwerk „Gesellschaft als imaginäre Institution“ als extremen Hegelianer. Genauer, er meint, es gäbe bei Marx zwar gegenläufige Momente, letztlich würde aber der Hegelianismus, den er als strikte deterministische Sichtweise interpretiert, die Oberhand gewinnen. Damit, so Castoriadis weiter, wäre die Offenheit der Zukunft abgeschafft, das Drehbuch sei schon geschrieben, die Rollen verteilt, das Proletariat müsse das Stück nur noch aufführen. Sehr elegant und klug zeigt nun Castoriadis die philosophischen und ethischen Konsequenzen dieses Ansatzes auf. Ich meine, dass Castoradis Marx sehr einseitig und selektiv darstellt, aber es gibt diese Elemente bei Marx durchaus. Welche Rolle sie im Gesamtwerk von Marx einnehmen, wäre zu diskutieren. Aber sie existieren. So kann Castoriadis auf  bekannte Aussagen von Marx verweisen, etwa auf seine Zustimmung zur Aussage eines russischen Rezensenten des „Kapitals“, Marx würde die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Prozess betrachten, der vom Willen, Wollen und dem Bewusstsein der Menschen völlig unabhängig sei. Castoriadis interpretiert solche Thesen als die eigentliche philosophische Substanz des Marxismus. Wenn solche Formulierungen tatsächlich das letzte Wort von Marx wären, hätte Castoriadis recht: das Tun, das Handeln der Menschen, ihre Fähigkeit, das Neue zu schöpfen, wäre undenkbar, ein Hirngespinst. Befreiung – und das ist das entscheidende – würde sich im Vollzug bereits feststehender, fix und fertiger Wahrheiten erschöpfen: der Revolutionsprozess würde zum sozialtechnologischen Unternehmen. Dagegen versucht Castoriadis, durchaus ähnlich wie Holloway, das Handeln und Tun sozialphilosophisch zu rehabilitieren. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Castoriadis seinerzeit gegen ein philosophisches Milieu in Paris anschrieb, in dem etwa folgende Aussagen von Althusser als neueste Erkenntnis gepriesen wurden: „Daher sind wir auch imstande, die Zukunft zu antizipieren und nicht nur allgemein die Theorie der Zukunft, sondern vor allem die Theorie der Mittel und Wege zu ihrer Verwirklichung zu entwerfen.“ (Althusser/Balibar, „Das Kapital lesen“; 267) Castoriadis anerkennt wohl die anderen Momente bei Marx. Die Menschen machen ihre Geschichte zwar unter vorgefundenen Gegebenheiten, aber sie können diese Gegebenheiten überschreiten: „Mit diesem Moment wird es möglich, in der Pariser Commune und den russischen Sowjets nicht nur episodenhafte Erhebungen, sondern die Schöpfung neuer Formen des gesellschaftlichen Lebens durch die Aktionen der Massen zu erkennen.“ (Castoriadis, „Gesellschaft als imaginäre Institution“; 96) Aber diese mussten aufgrund der herkömmlichen Ontologie, der auch Marx verhaftet blieb, die das radikal Neue nicht denken kann (oder will), einem deterministischen, geschlossenen Geschichtsbild weichen.

Anstatt das Problem der möglichen Autonomie des Handelns bei Marx zu diskutieren, reagieren die Autoren mit einer Erklärung, warum es mit der Auffassung der „an die Naturgeschichte gemahnenden gesetzlichen Charakter“ (25) bei Marx schon seine Richtigkeit habe. Die Naturgesetzlichkeit der Geschichte sei nämlich keine positive Bestimmung, sondern drücke das vollkommene Bestimmtwerden der Menschen aus. Das Handeln der Menschen würde nämlich „unbewusst der Eigendynamik des Setzens und Lösens des Widerspruches zwischen dem Gebrauchswert und dem Wert der Waren folgen.“ (47) Wenn aber, wie die Autoren mehrfach versichern, das Handeln der Menschen durch diese Widersprüche und ihre Lösungsformen bestimmt sind, dann ist ihr Handeln substanziell heteronom. „Den Menschen ist das Gesetz des die Gesellschaft gestaltenden Handelns aus der Hand genommen.“ (73) Diese Aussage lässt doch an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig – sollten wir meinen. An anderen Stellen behaupten sie, im Gegensatz dazu, die Möglichkeit zum emanzipatorischen Handeln (vgl. 84). Was zuerst methodisch und analytisch ausgeschlossen wurde, wird später als bloßer Ausdruck von Gesinnung wieder eingeführt, die eigene Analyse wird durch eine bloße Erklärung außer Kraft gesetzt.  Und diese Inkonsequenzen soll eine Antwort auf die von Castoriadis aufgeworfenen Fragen sein?

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Autoren nicht bereit sind, sich auf die Themen von Castoriadis überhaupt einzulassen. Castoriadis wird uns permanent als Person ohne jedes Verständnis vorgeführt. Ungezählte Male - in manchen Passagen beginnt jeder dritte Satz derart - stoßen wir auf Formulierungen wie: Castoriadis kennt nicht… Castoriadis weiß nicht… Castoriadis hat nicht verstanden… Castoriadis weiß nichts von… Das ist albern. Castoradis entwickelt eine gewisse Sichtweise auf Marx, wir können sie durchaus kritisieren, aber doch nicht auf der Basis der Einschätzung, unser Autor hätte das „Kapital“ schlichtweg nicht verstanden. Um die elementare Unfähigkeit von Castoriadis aufzuzeigen, bemühen die Autoren unablässig ihre eigene, alles erhellende und korrekte Marxdarstellung. Sehr oft finden wir folgende Figur der Darstellung: Zuerst wird eine Passage von Castoriadis zitiert, in dem dieser ein Problem anspricht oder eine These setzt. Anstatt direkt darauf zu antworten, werden Passagen aus dem „Kapital“, vor allem die Wertformanalyse, paraphrasiert. Nicht einmal, fünfmal, zehnmal, … nein ununterbrochen. In ungezählten Anläufen wird jede Aussage von Castoriadis mit einer erneuten Darstellung der Wertformanalyse oder den Grundkategorien wie konkrete Arbeit oder abstrakte Arbeit usw. widerlegt und erneut unserem Autor völliges Unverständnis bescheinigt. Diese Darstellungen ihrer eigenen Auffassungen der Marxschen Kategorien sind ausgesprochen ermüdend. Selten kommen sie über die Wiederholung der immergleichen Formeln hinaus. Dazu als Bespiel ihre Kritik an der These, in der Antike gäbe es keine abstrakte Arbeit, Aristoteles hätte also nichts erkennen können, weil es nichts zu erkennen gab. Diese Auffassung vertritt Marx im „Kapital“. Die Autoren schlagen dagegen eine andere Sichtweise vor. Sie meinen: sobald es Warentausch gibt, gibt es auch die abstrakte Arbeit. Worin bestand aber die historische Schranke, von der Marx spricht, die Aristoteles daran hinderte, diese abstrakte Arbeit als gemeinsame Substanz des Wertes zu erkennen? Die Autoren: „Es ist die ‚Arbeit sans phrase’ die [im Kapitalismus, K.R.] ‚praktisch wahr’ geworden ist“ (248) und die es in der Antike so noch nicht gegeben haben soll. Was meint nun „Arbeit sans phrase“, wodurch unterscheidet sie sich von der abstrakten Arbeit? Wenn ich die Argumentation richtig verstehe, so bedeutet das „praktisch wahr“ werden schlichtweg: kapitalistisches Verhältnis. Ich vermute die Autoren meinen also folgendes: In der Antike gab es zwar Warenproduktion und daher auch die abstrakte Arbeit, aber die Gesellschaft war nicht durch und durch auf verallgemeinerter Warenproduktion aufgebaut, sie war also noch kein Kapitalismus. Der Stoffwechsel mit der Natur konnte noch nicht jene gesellschaftsbestimmende Rolle spielen, der ihm im Kapitalismus zukommt. So gesehen ergeben folgende Aussagen einen Sinn: Die Formel „Arbeit sans phrase“ soll es zwar für Marx „als ‚ewig gültigen Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur’“ immer geben, „solange Menschen existieren“, diese Arbeit sans phrase ist „aber erst unter historisch spezifischen Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft praktisch wahr geworden“ (247). Nun lässt diese Formel zahllose Fragen offen. Anstatt nun zu erläutern, was diese spitzfindige Konstruktion eigentlich meint, wird diese Formel vom Wahrwerden der „Arbeit sans phrase“ unablässig in fast identischen Formulierungen wiederholt; bei der achten Wiederholung innerhalb von vier Seiten habe ich aufgehört zu zählen (245 – 249).

Im letzten Drittel des Buches beschäftigen sich Sommer und Wolf mit dem Essay: „Wert, Gleichheit, Gerechtigkeit, Politik. Von Marx zu Aristoteles und von Aristoteles zu uns“. Castoriadis spannt in diesem Artikel, wohl einem seiner besten, einen großen Bogen. Er beginnt mit seiner sehr wenig überzeugenden Darstellung einiger Probleme in der Marxschen Ökonomietheorie, kommt aber dann rasch auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen: Es ist das geschichtsphilosophische Verhältnis von Arbeit und Kapitalismus. Konkret geht es um die Kategorie der abstrakten Arbeit, das Gemeinsame, die Substanz des Werts.

Nach Castoriadis sind es drei Versionen dieses Verhältnisses, die Marx gleichzeitig formuliert:

1. Der Kapitalismus produziert durch seine Verhältnisse die abstrakte Arbeit, die es im eigentlichen Sinne im Vorkapitalismus nicht gibt und ebenso im Kommunismus nicht mehr existiert. Nach meiner Auffassung ist dies auch die exakte Position von Marx, sie könnte unter anderem durch die längere Passage in den „Grundrissen“ belegt werden (MEW 42; Seite 38 – 39), in der Marx klar sagt, die abstrakte, wertbildende Arbeit würde ihre „Vollgültigkeit“ nur innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse besitzen. Sommer und Wolf zitieren diese Passage von Marx und müssen sie zurückweisen, da sie nicht ihrem Verständnis von abstrakter Arbeit entspricht.

2. Der Kapitalismus lässt erscheinen, was schon immer da war. Die abstrakte Arbeit gab es immer schon, aber sie kommt erst im Kapitalismus zur Wirklichkeit. Castoriadis meint, Marx als Hegelianer müsse sich letztlich dieser Version anschließen. Das würde stimmen, wäre er ein Hegelianer. Diese zweite Version ist auch jene der so genannten Orthodoxie. Die abstrakte Arbeit hätte es immer schon gegeben, bestimme als Wertgesetz die kapitalistische Ökonomie hinter dem Rücken der Menschen und käme später im Sozialismus in wissenschaftlicher Planung, der Anwendung des Wertgesetzes, zu weiteren Ehren.

Als 3. Version nennt Castoriadis, dass der Kapitalismus den verschiedenen Arbeiten den Anschein des Selben gäbe. Diese Position ist letztlich auch seine eigene. Die konkreten Arbeiten und ihre Produkte sind und bleiben ungleich, eine Gleichsetzung ist eine rein gesellschaftliche imaginäre Bedeutung. Diese Position vertrete auch Aristoteles, deswegen sei er in diesem Punkt Marx überlegen. Ich habe seinerzeit argumentiert und bleibe auch dabei, dass, wenn wir Position eins für Marx „zulassen“, die Differenz zu Position drei nicht unüberbrückbar ist. Marx sagt ja selbst, der Wert und damit seine Substanz sei etwas durch und durch Gesellschaftliches.

Die Differenz zwischen Marx und Castoriadis löst sich in die Frage auf, was denn „etwas rein Gesellschaftliches“ (MEW 23; 71) meint. Castoriadis fokussiert auf den Gegensatz von physis (Natur, das von Natur gegebene, aber auch Notwendige und Unumgängliche) und nomos (Gesetz, gesellschaftliche Ordnung, gesellschaftliche Institutionen). Es fragt also: gehört die abstrakte Arbeit der Ordnung der physis oder dem nomos oder irgendwie beiden an? Das kann Marx, so Castoriadis, nicht klar beantworten. Daher schwankt er auch in der Frage, ob die Gesellschaft, vor allem die beste, anzustrebende Gesellschaft, von Natur aus (physei) gegeben ist, oder doch ein Werk des nomos, der instituierenden Autonomie, sein muss. Diese Passagen zählen für mich zum Besten und Interessantesten, was Castoriadis je geschrieben hat. Das lässt auch über einige recht flapsige Kritikpunkte an Marx zu Beginn des Textes hinwegsehen, zumal sie später nicht mehr aufgegriffen werden. Castoriadis führt diese Problematik weiter zu Fragen der Gleichheit und der Gerechtigkeit, um letztlich Marx auch dahingehend zu kritisieren, dass er den Kommunismus als Gesellschaft denkt, die weder Institutionen noch Probleme der Gerechtigkeit kennt. Dem gegenüber beharrt Castoriadis darauf, dass Gesellschaft sich niemals selbst transparent und durchsichtig werden kann, dass das Problem der distributiven Gerechtigkeit nie (völlig) verschwindet, dass also die Marxsche Formel „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ eine Scheinlösung suggeriert. Auch bei dieser Frage reagieren die Autoren mit befremdlicher Uneinsichtigkeit in tatsächliche Probleme: „Die Durchsichtigkeit der Verhältnisse, die sich Marx vorstellen kann, kann es bei Castoriadis nicht geben.“ (132) Das stimmt und spricht für die Klugheit von Castoriadis. Es ist überdies die Frage, ob es diese Durchsichtigkeit der Verhältnisse auch für Marx selbst gibt. Marx spricht zwar davon, dass in einer freien Gesellschaft die Ökonomie rational geplant und gestaltet, also vom Menschen beherrscht wird, ob er aber diese Teilplanung als umfassende Planung der Gesellschaft denkt, wäre doch zu diskutieren. Denn eine Planung der Gesellschaft schließt natürlich eine Planung der Menschen, aus denen Gesellschaft ja schließlich besteht, ein. Ob wir die Produktion von Reis und Stahl planen, ist eine Sache, eine andere, ob wir die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt planen wollen – für mich ein Unterschied zwischen Befreiung und totalitärem Alptraum. Ein Alptraum deswegen, nicht weil er funktioniert, sondern grausam scheitern muss. Aber wie kommentieren die Autoren diese völlig richtigen Überlegungen von Castoriadis? „Castoriadis gibt sich aufgeklärt realistisch, obwohl er gar nicht weiß, worum es geht.“ (132)

Die Autoren zitieren zwar seitenlang Passagen aus den Texten, gehen aber auf all diese Fragestellungen nicht ein. Castoriadis, so werden wir informiert, begreift einfach überhaupt nichts von Marx. Daher seien seine Überlegungen unsinnig und strotzten von Fehlannahmen und Unverständnis. Warum dann die Auseinandersetzung mit dieser Dumpfbacke? Bei manchen Passagen konnte ich das Gefühl nicht loswerden, Castoriadis sollte als bloßer Sparring Partner fungieren, um die eigene Auffassung darstellen zu können. Wenn ich mir aber so manche Lösungen der Fragen ansehe, kommen mir schon Zweifel, ob da die große Alternative vorliegt.

Sehen wir uns dazu ihre Lösung des Problems an, wieso und unter welchen Bedingungen ungleiche Arbeiten (also die Schneiderarbeit und Schusterarbeit) gesellschaftlich gleichgesetzt werden können. Ob es mir nun wirklich gelungen ist, die Essenz ihrer Auffassung wiederzugeben, sei dahingestellt. Einen Versuch möchte ich machen. Also: Wir müssen die ganze Problematik in zwei Schritten denken. „Erste Stufe“: Jedes Arbeitsprodukt ist zugleich Produkt von Arbeit schlechthin, Arbeit überhaupt. Die zweite Stufe bestünde darin, „dass die Menschen den Austausch der verschiednen Arbeitsprodukte vornehmen, worin diese als Produkte menschlicher Arbeit einander gleichgesetzt und auf  einander bezogen werden.“ (177) Warum können aber die verschiedenen Arbeitsgattungen einander gleichgesetzt werden, was hat Schneiderarbeit und Tischlerarbeit gemeinsam? Na was schon, scheinen mich die Autoren geradezu anzufauchen: Arbeitsprodukte können deswegen gleichgesetzt werden, weil sie „Produkte menschlicher Arbeit“ sind und „in dieser allgemeinen Eigenschaft einander gleichgesetzt und aufeinander bezogen werden.“ (177) Arbeitsprodukte sind Produkte von Arbeit (erste Stufe) und können deswegen problemlos im Tausch gleichgesetzt werden (zweite Stufe). Das habe Castoriadis nicht verstanden, daher wären auch die drei verschiedenen möglichen Fassungen der geschichtlich-gesellschaftlichen Gleichheit der Arbeiten Ausdruck seiner „banalen wie tollkühnen Interpretationskünste“ (225).

Schon um das Buch lesbarer zu machen, wäre ein entschlossenes Lektorat nötig gewesen. So hätte der Text sehr gewonnen, wenn die Autoren ihre Auffassung der Grundkategorien bei Marx knapp, kurz und thesenhaft an den Beginn des Buches gestellt hätten. Ich finde es schon legitim, schreibend zu denken, Wiederholungen und Umwege sind dabei unvermeidlich. Aber als Text, der zur Veröffentlichung geeignet sein soll, muss er doch nochmals Richtung Klarheit und Knappheit überarbeitet werden. Wie schlecht redigiert der Text offenbar ist, zeigt eine kleine Panne auf Seite 113. Nachdem gegen die Sozialisationstheorie bei Castoriadis zu Felde gezogen wurde, wird Habermas als Kritiker aufgerufen. „Habermas stellt zu dieser misslungenen Vermittlung von Individuum und Gesellschaft aus seiner kommunikationstheoretischen Perspektive fest:...“ (113) Im darauf folgenden Zitat zitiert Habermas aber zuerst Castoriadis, um dann einen kritischen Satz anzuhängen. Aber offenbar ist es niemandem aufgefallen, dass der längere Teil der zitierten Passage nicht aus der Perspektive der Kommunikationstheorie à la Habermas geschrieben ist und in keinem Fall eine Kritik an Castoriadis darstellen kann.

Michael Sommer, Dieter Wolf: Imaginäre Bedeutungen und historische Schranken der Erkenntnis. Eine Kritik an Cornelius Castoriadis. Hamburg: Argument Verlag, 2008, 268 Seiten, Euro 19,90

Dienstag, 13. November 2012

Glosse und Blog

Helmut Dahmer schreibt in der Vorbemerkung zu seinen gerade erschienenen Interventionen: "Die Glosse gehört zu den 'kleinen' literarischen Formen. Dem Intellektuellen, einem Zeitungs- und Buchleser, der sich nur selten ins politische Getümmel mischt, ermöglicht sie es, in aller Kürze Stellung zu dem zu nehmen, was ihm am Herzen liegt. Er nimmt oft Anstoß, doch Zorn und Begeisterung laufen Gefahr, im Gegrummel zu verenden. Schreibend errettet er sie, versetzt sie mit dem, was er weiß, und überführt sie derart ins Argument."

Das "Bloggen" ist im besten Fall eine solche Überführung von Zorn und Begeisterung ins Argument. Meistens jedoch bleibt es beim digitalen Gegrummel. Das liegt nicht zuletzt daran, dass man für das (noch so "kleine") Formen von Argumenten Zeit benötigt. Aber der digitale Sog - wie das Unbewusste - kennt keine Zeit, oder, so ahnt man, er vernichtet sie sogar. Andererseits: Hier ist paradoxerweise das Argumentieren ohne Zeitverlust (durch Lektorieren, Korrigieren, Setzen, Drucken) und Wartefrist möglich. Es fragt sich freilich, ob es dann noch ein Argumentieren ist.